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Ein guter Junge


von Monika A. E. Klemmstein

Mir ist kalt, unglaublich kalt. Es tut überhaupt nicht mehr weh. Wenn nur nicht diese Kälte wäre. Na ja, lange wird’s ja nicht mehr dauern. Wenigstens eine Decke hätte er mir noch überlegen können, ehe er weggelaufen ist. Muss wohl völlig kopflos geworden sein, der Junge.

Das hat er bestimmt nicht gewollt. Er hat mich doch auch lieb gehabt. Oder etwa doch nicht so sehr? Ich jedenfalls habe ihn geliebt. Mein Sohn, der Heinz, der hat immer gesagt: „Mutter, du verwöhnst meinen Sohn viel zu sehr. Mit mir warst du viel strenger.“

Ja, mag ja sein. Aber damals, als der Heinz auf die Welt kam, da war alles auch viel schwerer. In der schweren Zeit nach dem Krieg war das. Mein Fritz und ich hatten gerade unser Geschäft aufgebaut. Wir hatten wenig Zeit füreinander. Aber irgendwie war das auch eine schöne und intensive Zeit. Heinz nahmen wir immer mit ins Geschäft. Er krabbelte zwischen den Regalen umher und spielte im Lager.

Oh Gott, ist es kalt hier. Wie lange liege ich hier schon? Ich kann mich überhaupt nicht bewegen. Es ist nass um mich herum. Das kann nicht nur mein Blut sein. Ach nein, das ist das Blumenwasser. Die Astern liegen verstreut zwischen den Scherben. Morgen sind sie welk.

Hoffentlich ist er schon weit weg, wenn sie mich finden. Komm, streng deinen alten Geist noch einmal an. Also…es ist jetzt schon lange dunkel. Als Stefan hier war, wollte ich uns eine Tasse Tee kochen. Das war am Nachmittag. Ein paar Kekse habe ich auf den Küchentisch gestellt. Aber Stefan wollte keine. Er wollte auch keinen Tee. Er hätte es eilig. Ganz zerfahren war er. So war er ja in den letzten zwei Jahren immer. Aber so schlimm wie heute Nachmittag habe ich ihn noch nie erlebt.

Ich verstehe ihn nicht. Er hätte es doch bekommen. Ich habe ihm doch immer alles gegeben. Warum hat er denn nichts gesagt? Ich hatte nur nichts mehr in der Schublade liegen. Sonst habe ich ja immer etwas Bargeld in der Küche in der Schublade. Das habe ich ihm doch immer gegeben. Aber gestern war der Postbote da mit einem Päckchen von Quelle. Das habe ich gleich bezahlt. Wenn er doch nur etwas gesagt hätte. Ich kam ja gar nicht mehr dazu, es ihm zu erklären.

Die Heizung…die ist schon lange abgestellt. Morgen früh um sieben Uhr springt sie wieder an.

Wenn es doch nur nicht so schrecklich kalt wäre. Mein Kopf tut gar nicht mehr weh. Den Schlag habe ich auch zuerst gar nicht mitbekommen. Aber gleich danach, da hat es schon ganz dolle wehgetan. Aber jetzt überhaupt nicht mehr.

Die schöne Vase, die ich von Heinz und Linda bekommen habe, die ist nun kaputt.

Ach Stefan. Warum nur? Diese schwere Schuld. Die lastet jetzt ein ganzes Leben auf dir. Ich habe dir immer gesagt: „Hör auf damit. Du wirfst doch dein ganzes Leben in die Gosse.“

„Oma“, hat er gesagt, „Oma, das verstehst du nicht!“ Ich ging mit schwerem Herzen an die Schublade und gab ihm immer etwas Geld. Mal fünfzig Mark, mal hundert Mark. Was ich eben so in der Schublade hatte. Zu Heinz und zu meiner Schwiegertochter konnte Stefan ja nicht mehr gehen. Die haben ihn rausgeworfen zu Hause. Linda, meine Schwiegertochter, hat mir erzählt, das hätten die in der Beratungsstelle so gesagt. Das würde Stefan am besten helfen. Aber ich kann das nicht. Heinz schimpft zwar immer mit mir. Aber ich liebe doch den Stefan.

Mir ist kalt. Stefan. Ich hätte dir doch morgen etwas gegeben. Morgen wäre doch meine Rente gekommen. Dann hättest du doch wieder etwas bekommen. Aber nein, Stefan hatte es unglaublich eilig. Es musste heute sein. Er hat mir nicht geglaubt, dass ich nichts in der Schublade habe. Als ob ich ihn schon einmal angelogen hätte.

Ins Schlafzimmer ist er gelaufen, hat alle Schubladen aufgerissen, die Wäsche auf dem Boden verstreut. „Wo hast du’s“, hat er gebrüllt. So habe ich den Jungen noch nie erlebt. Mein kleiner Stefan. Was ist nur in dich gefahren? Es ist nur der schlechte Umgang, den du hast. Die haben dich verführt mit diesen Drogen und so. Du bist immer ein guter Junge gewesen.

Wo ist die Kälte geblieben? Ich friere überhaupt nicht mehr. Ist es jetzt bald soweit? Ach Herr, wenn ich nun vor dich trete, dann bitte ich dich um Erbarmen für Stefans arme Seele. Das wollte er bestimmt nicht. Er war nur verzweifelt.

Mittwoch werden sie mich dann sicherlich finden. Ob sie sich erschrecken, wenn sie mich so sehen? Mittwochs ruft Linda immer an. Wenn ich dann nicht ans Telefon gehe, dann machen sie sich Sorgen und kommen vorbei. Dann sind zwei Tage vergangen. Zeit genug. Zeit genug für Stefan. Dann kann er schon weit weg sein.

Stefan, ich habe dir ja jetzt schon verziehen. In meinem Alter verzeiht man leichter und schneller.

Ach, nun ist es ganz warm…und so hell. Gott, bist du das? Hallo, Gott, hörst du mich? Ja! Das ist schön. Weißt du, der Stefan, der ist ein guter Junge.